Der Weg von Jork Mitte zum Borsteler Hafen führt durch eine der schönsten Straßenzüge der Gemeinde Jork. Links die Kleine Seite, rechts die Große Seite. Wie die Namensgebung schon vermuten lässt, lagen auf der Großen Seite die Häuser der besser betuchten Altländer. Heute sind die hübschen und oft liebevoll sanierten Gebäude auf beiden Straßenseiten beliebte Foto- und Postkartenmotive.
Der Königsmarck’sche Hof, erbaut im Auftrag des Grafen von Königsmarck, gehört sicher zu den prunkvollsten Häusern der Großen Seite. Später bezog die Familie Werth den Herrensitz aus dem 17. Jahrhundert, daher auch der Name Werth’scher Hof. Im Inneren des Gebäudes sind bedeutende Ausbauten von 1632 erhalten. 2003 wurde der Werth’sche Hof mit dem Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege ausgezeichnet.
Vis á vis reihen sich die kleineren Häuser aneinander, mittendrin das Haus „Möhring“ in der Kleinen Seite 4. Vor allem Bedienstete des Hofes und Handwerker hatten sich hier niedergelassen. Die Häuser sind typisch für das Alte Land, jedoch fehlt ihnen der sonst übliche Wirtschaftsteil im hinteren Bereich des Hauses. Bei einem Brand im Jahre 1846 wurden die Häuser mit den Hausnummern 5 bis 11 zerstört. Zwar wurden sie wieder mit Fachwerk aufgebaut, mussten aber mit einem Pfannendach eingedeckt werden. Das Haus der Familie Möhring blieb verschont und durfte weiterhin eine Reeteindeckung behalten.
Archiviert ist der Heiratseintrag von Hinrich Möhring aus Neuenschleuse, der 1819 die vermutlich verwitwete Margarete Sievers ehelichte und zu seiner Ehefrau in der Kleinen Seite zog. Hinrich Möhring wurde als so genannter „Eigenwohner“, also als Besitzer des Hauses, eingetragen. Bis zum Verkauf des Gebäudes im Jahre 2011, lebte die Familie über mehrere Generationen in der Kleinen Seite.
Das Einkommen wurde durch den Obstanbau, Kornhandel und die Schifffahrt ge-sichert. Das Fleth vor der Tür und den Borsteler Hafen in der Nähe bot sich der Transport von Waren als Einkommensquelle an.
Der Borsteler Hafen ist nur einen Katzensprung entfernt und heute Teil eines Naturschutzgebietes. Im Hafen, der 1970 im Zuge der Elbeindeichung stillgelegt wurde, informieren Schautafeln über den Gütertransport, den Fischfang auf der Unterelbe und über die Geschichte des Hafens. Ein Verein kümmert sich ehrenamtlich um die Pflege des Geländes und um die Tjalk „Annemarie“, ein altes Rundschiff, wie es früher für den Transport von Waren auf Binnen- und Küstengewässern genutzt wurde. Südlich und westlich des kleinen Hafens befinden sich weitläufige Obstplantagen.
In Blickweite des Hauses Möhring ist die die schöne Borsteler Kirche, St. Nikolai, ein spätgotischer Bau mit vielen dekorativen Elementen. Der hohe Glockenturm stammt aus dem Jahre 1695. Die Schlagglocke der Turmuhr – um 1200 hergestellt – ist eines der ältesten Kirchenstücke des Alten Landes. Am Bau der historischen Orgel war der berühmte Orgelbauer Arp Schnitger beteiligt.
In der restaurierten Mühle „Aurora“, auch ein bekanntes Altländer Bauwerk, befindet sich ein Gourmetrestaurant. Das Café „Mövennest“ – direkt auf dem Elbdeich gelegen – bietet außer hausgemachten, Kuchen, Torten und kleinen Mittagsgerichten einen direkten, wunderschönen Blick auf die Elbe und den Jorker Yachthafen.
Auf der “Kleinen Seite” wohnte Michael Bartels, der bis ins Jahr 1916 (seinem Todesjahr) als Gemeindediener in Borstel arbeitete. Er gilt als der Kronzeuge einer abenteuerlichen Legende um den Matrosen Hinrich Meier aus Neuenschleuse. Diese Legende wird seit Jahrzehnten in Borstel erzählt. Hinrich Meier galt seit 1848/49 als verschollen und soll einst Herrscher des Südsee-Königreichs Tonga gewesen sein, von dem die Herrscherdynastien des Inselstaates abstammen sollten. Der Legende nach, die der Gemeindediener Bartels beim Gastwirt Wehrt erzählte, hat er mit der kaiserlichen deutschen Korvette “Gazelle” im Jahre 1874-76 auch die Tongainseln angelaufen und vor der Hauptinsel Tongatapu kam der korpulente, 3 Zentner schwere König Georg I. an Bord und fragte, “ob denn keen Mann an Bord wäre, de ut Ollan’ kummt?” Als Bartels sich meldete, vertraute der Häuptling ihm an, dass er Hinrich Meier aus Neuenschleuse sei und als einziger Überlebender einer Segelschiffbesatzung auf den Tonga-Inseln gestrandet wäre. Die Insulaner hätten ihn aufgenommen und nach der Hochzeit mit der Häuptlingstochter zum neuen König von Tonga gemacht.
Von den Tonga-Inseln war allerdings auf Anfrage von Jan Wehrt, dem damaligen Gastwirt “Zur Erholung” und Grossneffe von Bartels keine Bestätigung zu erhalten. Wahr an der Geschichte ist, dass Michael Bartels mit der kaiserlich dt. Korvette “Gazelle” auf einer Reise in die Südsee zwischen 1874 und 76 auch die Tongainseln angelaufen hat. Der König “Taufa Ahau Topou-Georg I.” kam auch tatsächlich an Bord., brachte allerdings einen Dolmetscher mit, weil er kein Deutsch konnte.
(Textquelle: “Der König von Tonga” aus Das Alte Land – drei Meilen an der Unterelbe /Edition Temmen / Oliver Falkenberg und Linda Sundmaeker)